Der 4. Senat des Hessischen Finanzgerichts in Kassel unter Vorsitz des Richters Helmut Lotzgeselle hatte am 10. November 2016 entschieden, dass Attac gemeinnützig ist und damit der Klage von Attac stattgegeben (Az: 4 K 179/16). Die schriftliche Urteilsbegründung wurde erst im April 2017 vorgelegt. Das beklagte Finanzamt möchte eine Revision beim Bundesfinanzhof erreichen. Deswegen hat es eine Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Das Urteil ist daher nicht rechtskräftig. Die Entscheidung und ihre Begründung wird hier dargestellt. Das Urteil ist nicht verbindlich für andere Verfahren, aber die Begründungen können natürlich in Auseinandersetzungen verwendet werden.
- Attac hat das zugestellte Urteil hier als PDF veröffentlicht. Auf diese Fassung beziehen sich die Seitenangaben in den folgenden Hinweisen.
- Das Gericht hat eine Online-Fassung als PDF veröffentlicht.
- Zusätzlich hat das Gericht 16 Leitsätze veröffentlicht (PDF).
Die wichtigsten Teile der Entscheidung sind:
- Die Satzung von Attac erfüllt die Anforderungen an die Gemeinnützigkeit.
- Die Tätigkeiten von Attac in den Jahren 2010 bis 2012 waren gemeinnützig, weil sie den Satzungszwecken dienten. Die abweichenden Bescheide des Finanzamtes Frankfurt sind aufgehoben.
- Die Kosten des Verfahrens, auch des Vorverfahrens, trägt das Finanzamt.
- Es wird keine Revision zum Bundesfinanzhof zugelassen. Das Gericht habe keine Grundsatzentscheidung getroffen, sondern lediglich die Aktivitäten von Attac in den Jahren 2010 bis 2012 beurteilt.
Lesehilfe und Gliederung des schriftlichen Urteils
Generell: „Kläger“ ist Attac, „Beklagter“ ist das Finanzamt.
- Auf Seite 2 und 3 steht die Entscheidung: Aufhebung der fehlerhaften Steuerbescheide mit der Maßgabe, dass Attac gemeinnützig ist.
- Auf Seite 4 bis 22 wird der bisherige Gang des Verfahrens dargestellt und insbesondere die Argumente von Attac und Finanzamt im Klageverfahren.
- Ab Seite 22 begründet das Gericht seine Entscheidung. Dabei prüft es zunächst die Zulässigkeit der Klage.
- Auf Seite 23 und 24 erklärt es die Rechtslage als Grundlage der Entscheidung.
- Ab Seite 24 begründet es, warum die Satzung von Attac den Anforderungen der Gemeinnützigkeit entspricht, warum die dort genannten Zwecke gemeinnützigen Zwecken entsprechen. Dabei wird unter anderem auf die Bedeutung des Zwecks „Förderung des demokratischen Staatswesens“ eingegangen und festgestellt, dass dieser Zweck auch die Förderung des Gemeinwesens und der Solidarität umfasst.
- Ab Seite 28 untersucht das Gericht, ob die tatsächliche Geschäftsführung von Attac auch der Satzung entspreche, also ob Attac ausschließlich gemeinnützige Zwecke verfolgt hat. Ab Seite 34 werden dazu vom Finanzamt monierte Tätigkeiten untersucht. Das Gericht begründet, warum diese Tätigkeiten gemeinnützig sind. Ab Seite 43 geht es um die Arbeit der Attac-Regionalgruppen.
- Auf Seite 46 und 47 geht es um die steuerliche Beurteilung von wirtschaftlichen Aktivitäten von Attac, um die Begründung der Kostenentscheidung und warum keine Revision zum Bundesfinanzhof zugelassen wird.
(Seitenzahlen bezogen auf die von Attac veröffentlichte Fassung)
Zentrale Aussagen des Finanzgerichts
In runden Klammern Seitenzahlen des schriftlichen Urteils, bezogen auf die von Attac veröffentlichte Fassung. Hervorhebungen nicht vom Gericht. Zitate sind wörtlich entnommen. Einschübe in eckigen Klammern.
Entscheidung / Begründungskern
„Das so verstandene Klagebegehren ist in vollem Umfang begründet. Der Kläger [Attac] ist in den Streitjahren als gemeinnützig anzuerkennen.“ (23)
„Da … sämtliche in der Satzung des Klägers genannten Zwecke förderungswürdig im Sinne des § 52 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 AO sind …, ist die formelle Satzungsmäßigkeit gegeben.“ (27)
„Ausgehend von diesen Grundsätzen steht im Streitfall zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger ausschließlich und unmittelbar die in seiner Satzung bestimmten Zwecke verfolgt und auch nur dafür Mittel verwendet hat.“ (31)
„Insbesondere hat der Kläger bzw. seine Organe keine politische Tätigkeit als Selbstzweck verfolgt. Vielmehr waren die vom Beklagten herausgestellten Maßnahmen und Aktionen des Klägers in ein vielfältiges Informations- und Bildungsangebot des Klägers über fiskalische und wirtschaftliche Zusammenhänge eingebettet. (34)
„Entgegen der Auffassung des Finanzamtes sprechen die thematischen Schwerpunktaktionen im Veranlagungszeitraum nicht gegen die Gemeinnützigkeit des Klägers.“ (35)
„Auch in den Regionalgruppen und mit der Beteiligung an sog. Bündnissen hat der Kläger satzungsgemäß und förderungswürdig gehandelt. Satzungswidrige Aktivitäten der Regionalgruppen wären schädlich, da die Regionalgruppen einen Teil der dem Kläger zur Verfügung gestellten Mitgliedsbeiträge zur eigenen Verwendung erhalten, womit insoweit eine satzungswidrige Mittelverwendung vorläge.“ (43)
Aussagen des Gerichts zu politischer Betätigung und politischem Verein
„Ein politischer Verein, der eine weit überwiegend politische Zielsetzung und deren Verwirklichung verfolgt, ist nach allgemeiner Meinung nicht gemeinnützig.“ (28)
Aber:
- „Dass der Kläger mit dem Ziel größerer allgemeiner Aufmerksamkeit seiner kritischen Sicht auf das Regierungsvorhaben Demonstrationen und symbolischen Bankenbesetzungen arrangierte und sich mit einem Online-Appell an die Bundeskanzlerin und einen Bundesminister wandte, ist angesichts der gesellschaftlich umstrittenen Regierungsvorhaben zulässig und macht den Kläger noch nicht zu einem politischen Verein.“ (37f.)
- „Selbst wenn sich der Kläger vorliegend in seinem Internetauftritt als im politischen Bereich tätiger Verein präsentiert, ist dies nicht gemeinnützigkeitsschädlich. Damit wird nur die politische Dimension seines Handelns herausgestellt.“ (34f.)
- „Das Gericht verkennt auch insoweit nicht, dass zahlreiche Aktivitäten politiknah waren.“ (45)
- „Die Betätigung gemeinnütziger Organisationen muss dabei auch die politische Ebene tangieren können, ansonsten droht ein faktisches Leerlaufen ihres Engagements innerhalb unserer Zivilgesellschaft.“ (34)
- „Es ist daher im Sinne des Gemeinwohls, Missstände aufzuzeigen und praktische Lösungen für deren Beseitigung darzustellen.“ (33)
- „In dieser Hinsicht dient die Tätigkeit des Klägers der objektiven Meinungsbildung mit dem Ziel, die für die Allgemeinheit beste Lösung herbeizuführen.“ (35)
- „Die politische Tätigkeit darf nur nicht Selbstzweck der politischen Agitation sein.“ (34)
- „Nach der Rechtsprechung des BFH sind Aktionsformate wie Veranstaltungen mit Politikern, Demonstrationen und aktives Lobbying nicht zu beanstanden.“ (37)
„Es dürfen aber weder Einzelinteressen gefördert noch sonstige Lobbyarbeit geleistet werden.“ (30)
„Es handelt sich weder um eine einseitige Agitation noch um die Geltendmachung von Partikularinteressen, da es dem Kläger erkennbar nicht darum ging, zu Gunsten bestimmter Personen oder sozialen Gruppen einen Vorteil zu erreichen.“ (40)
„Mit diesen Themen hat sich der Kläger im Rahmen der Förderung der politischen Bildung und des demokratischen Staatswesens vielmehr kritisch an einem gesellschaftlichen Diskurs beteiligt, der nicht von der politischen Mehrheit getragen war, der aber in der Gesellschaft vorhandene Interessenkonflikte aufgreift.“ (35)
„Eine parteipolitisch motivierte Einflussnahme ist unzulässig. Allerdings bedeutet überparteilich nicht, dass im jeweiligen Einzelfall die Meinungen und Interessen nicht konform laufen dürfen mit denen einer Partei. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Aktion mit politischer Auswirkung sich regelmäßig gegen eine politische Richtung/Partei richtet und der Meinung der Gegenpartei, oft der Opposition, entspricht.“ (30)
„Insbesondere hat der Kläger bzw. seine Organe keine politische Tätigkeit als Selbstzweck verfolgt. Vielmehr waren die vom Beklagten herausgestellten Maßnahmen und Aktionen des Klägers in ein vielfältiges Informations -und Bildungsangebot des Klägers über fiskalische und wirtschaftliche Zusammenhänge eingebettet. (34)
„Hingegen steht es weder dem Beklagten [Finanzamt] noch dem Gericht zu, darüber eine Wertbeurteilung zu treffen und darüber zu befinden, ob eine auf die Förderung des gemeinnützigen Zwecks gerichtete und auch ansonsten mit der Rechtsordnung vereinbare Maßnahme zweckmäßig oder billigenswert erscheint.“ (29)
Aussagen des Gerichts zu Satzungszwecken
Förderung des demokratischen Staatswesens inklusive Solidarität, sozialer Gerechtigkeit und Gemeinwesen
„Die in der Satzung vorgesehene Förderung des Gemeinwesens, der Demokratie und der Solidarität werden von der in § 52 Abs. 2 S. 1 Nr. 24, 1. HS AO genannten Förderung des demokratischen Staatswesens mit umfasst.“ (25)
„Der Zweck des demokratischen Staatswesens ist dabei nach der Rechtsprechung und der Literatur weit auszulegen.“ (25)
„Die Inhalte des demokratischen Staatswesens sind dabei aus den Grundprinzipien des Grundgesetzes abzuleiten. … Dies sind … unter anderem das Demokratieprinzip, die Gewaltenteilung, der Rechtsstaat und das Sozialstaatsprinzip sowie die auf den Freiheits- und Gleichheitsrechten … beruhende freiheitliche Grundordnung.“ (25f.)
„Dies [Beschränkung des Zwecks auf den Geltungsbereich dieses Gesetzes] schließt im Fall der stark exportorientierten Volkswirtschaft Deutschlands Aufklärung zu internationalen Verteilungsfragen und zur Globalisierung nicht aus aus.“ (32)
Das Grundgesetz verpflichtet alle öffentliche Gewalt auf das Sozialstaatsprinzip. Dadurch werde die Ausrichtung auf soziale Gerechtigkeit zu einem leitenden Prinzip aller staatlichen Maßnahmen. Art. 20 Abs. 1 GG verpflichtet, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen. (S. 26).
„Die Gerechtigkeit, insbesondere auch in Form der Steuergerechtigkeit[,] ist dabei eine Kernkomponente des Sozialstaatsprinzips und dient zur Sicherung des sozialen Friedens, der Grundpfeiler einer funktionierenden Demokratie ist.“ (32)
Eine sozial ausgewogene Verteilungsgerechtigkeit verlange eine Besteuerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. (32)
„Das Grundgesetz sieht gerade eine Solidarität der (finanziell) Starken mit den (finanziell) Schwachen zur Stärkung des Gemeinwesens vor (Solidarität).“ (26)
„Ebenso ist die Solidarität wesentliche Säule der sozialen Komponente des demokratischen Rechtsstaats.“ (33)
Bildung, politische Bildung
Bildung braucht sich „nicht nur auf theoretische Unterweisung zu stützen, sondern die Information kann auch durch einen Aufruf zu konkreten Handlungen ergänzt werden und mit bestimmten Forderungen verknüpft sein.“ (29)
„Dabei ist nicht nur die Darstellung des status quo erlaubt, sondern vielmehr ist es geboten, gesellschaftspolitische Themen aufzugreifen und auch Alternativen darzustellen.“ (33)
„Mit derselben Zielrichtung sind ebenso spektakuläre Aktionen zulässig, um in der informations- und medienüberfluteten Gesellschaft Aufmerksamkeit für die Sache zu bekommen.“ (29f.)
„Wenn es sich um sachliche Informationen handelt, ist dagegen auch eine zum Teil drastische Sprechweise zu tolerieren.“ (30)
„Die jeweiligen Maßnahmen und Aktionen sind aber nur dann zu tolerieren, wenn sie eingebettet sind in ein umfassendes Informationsangebot und dazu dienen, sich Gehör zu verschaffen.“ (30)