Seit mittlerweile zwei Jahren wird uns angekündigt, dass die Koalition die vereinbarte Modernisierung der Gemeinnützigkeit umsetzt – oft wird auf das jeweils nächste Jahressteuergesetz verwiesen. Am 5. Juni 2024 hat die Bundesregierung einen Entwurf eines Jahressteuergesetzes beschlossen. Dieser Entwurf enthält einen Vorschlag für einen neuen gemeinnützigen Zweck zu Wohngemeinnützigkeit (gleicher Begriff, aber anderer Bereich), sonst aber keine Veränderungen am Gemeinnützigkeitsrecht. Das Bundesfinanzministerium plant ein zweites Jahressteuergesetz 2024. Im zweiten Gesetz solle es um „politisch brisante“, in der Koalition strittige Themen gehen; u.a. Gemeinnützigkeit, aber auch Kinderfreibetrag, Kindergeld, Steuerklassen/Faktorverfahren und mehr. Der Journalist Tilo Jung befragte hierzu in der Bundespressekonferenz die Regierungssprecher:innen, die aber erst später wirklich antworten mit: „Regierungsinterne Abstimmungen dauern an.“
Die Ungeduld bei vielen gemeinnützigen Organisationen und Dachverbänden wächst.
Hier nur einige der Briefe, die die Koalitionsspitzen in den vergangenen Wochen dazu Briefe erhalten haben:
- Nachtrag: Am 24. Juni wird ein Brief von 110 lokalen Vereinen an Bundeskanzler Olaf Scholz veröffentlicht, die wegen der ausstehenden Modernisierung des Gemeinnützigkeitsrechts und ihres Vor-Ort-Engagements gegen Rechtsextremismus in Sorge sind. (Siehe auch https://zusammen-gegen-rechts.org/)
- Ebenfalls am 24. Juni senden 54 weitgehend bundesweit tätige Vereine und Stiftungen einen Brief an den Bundeskanzler. Sie schreiben: „Viele von uns haben bisher Glück gehabt: Die meisten der 54 Vereine und Stiftungen, die Ihnen hier schreiben, sind weiterhin als gemeinnützig anerkannt. Sie fragen sich jährlich und mit jeder Steuererklärung, ob das so bleiben wird. Andere Unterzeichner*innen hatten Pech: Ihnen wurde die Gemeinnützigkeit bereits aberkannt.“ Sie fordern die Umsetzung des Koalitionsvertrages unter anderem mit Klarstellungen für politische Mittel und neuen gemeinnützigen Zwecken. Siehe dazu auch dieses Policy-Paper.
- Am 28. Mai 2024 schrieben acht große Stiftungen, unter anderem die Bertelsmann- und die die Robert-Bosch-Stiftung, einen offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz, Vizekanzler Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner und wiesen unter anderem auf die nötige Klarstellung zur politischen Betätigung sowie fehlende Zwecke unter andren für „Förderung des Schutzes und Durchsetzung der Grund- und Menschenrechte“ hin.
- Neun Förderstiftungen wiesen am 8. Mai 2024 in einem Brief an den Bundesfinanzminister daraufhin, dass die Lücken im Gemeinnützigkeitsrecht sie bei der Verteilung von Fördermitteln beschränken.
- Der Bundesverband Deutscher Stiftungen versandte bereits Anfang des Jahres sein Positionspapier, in dem unter anderem Klarstellungen zu Demokratieförderung und politischen Mitteln für gemeinnützige Zwecke gefordert werden.
- Am 30. April 2024 wandten sich acht gemeinnützige Dachverbände, darunter der Deutsche Olympische Sportbund und der Deutsche Spendenrat, an Scholz, Habeck und Lindner mit der Bitte um gesetzliche Klarstellung zu politischen Mitteln für eigene Satzungszwecke und bei Gelegenheit darüber hinaus.
- Das Bündnis für Gemeinnützigkeit, ein Zusammenschluss großer Dachverbände, erinnerte in einer Pressemitteilung vom 28. Mai 2024 an seine Vorschläge für rechtspolitische Reformen.
- Zusammen mit unseren Mitgliedsorganisationen Campact und Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) legte unsere Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“ bereits im Juni 2023 ein Papier mit Formulierungsvorschlägen vor. Aus dem Bundesfinanzministerium gab es darauf bis heute keine Reaktion.
- Die GFF reichte zum Ministeriumsentwurf des Jahressteuergesetzes am 24. Mai 2024 eine Stellungnahme ein.
Mehr als 400.000 Bürgerinnen und Bürger haben für eine Modernisierung des Gemeinnützigkeitsrechts unterschrieben. Zu einer Annahme der Unterschriften und einer Diskussion über die Forderungen war Finanzminister Christian Lindner bisher nicht bereit.
Was zwischen den drei Regierungs-Parteien derzeit geeint ist, ist wohl:
- gesetzliche Kodifizierung des „gelegentlichen“ Engagements über den eigenen Zweck hinaus (bisher im AEAO als „vereinzelt“)
- komplette Aufgabe der Pflicht zur zeitnahen Mittelverwendung (bisher nur für kleine Vereine mit Einnahmen bis 40.000 Euro/Jahr)
- Journalismus nicht als gesetzlicher Zweck, sondern eine Erlassregelung, dass dies einem anderem Zweck (wohl Bildung) diene
Strittig ist noch die Einführung von E-Sport als gemeinnütziger Zweck. Das Bundesfinanzministerium will das – aber Zwecke wie Förderung der Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit offenbar nicht.
- Wir haben dazu eine Chronik hier veröffentlicht.
- Zu anderen Fortschritten der Ampel in der Demokratiepolitik siehe hier.
- Im Januar 2022 wurde unabhängig von der neuen Regierungsmehrheit der Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) u.a. zu politischen Tätigkeiten überarbeitet. Die Änderungen haben an einigen Stellen mehr Klarheit gebracht, an anderen aber neue Unsicherheiten. Mehr dazu hier.
- Unsere Forderungen zur Modernisierung des Gemeinnützigkeitsrechts
- Was darüber hinaus als Leitplanken für eine langfristige Engagementstrategie getan werden muss, hatten wir Ende 2023 in unserem Impuls zur Engagement-Strategie des Bundes notiert.
UPDATE 25.07.24: Am 24. Juli 2024 hat das Kabinett zwei Wochen nach dem Hausentwurf jenen Entwurf des zweiten Jahressteurgesetzes unter dem Namen „Steuerfortentwicklungsgesetz“ beschlossen. Unsere Einordnung ist hier verlinkt.