Die neue Regierungskoalition nimmt sich mehr Fortschritt vor – auch bei Gemeinnützigkeit und der Förderung zivilgesellschaftlicher Organisationen. Wir stellen hier wichtigste Aussagen zusammen. Auf den Koalitionsvertrag haben sich die Spitzen der Ampel-Parteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP am 24. November 2021 geeinigt, die Parteien haben in Parteitagen bzw. Abstimmungen zugestimmt. Alle Seitenzahlen beziehen sich auf diese PDF (gedruckte Seitenzahlen, nicht PDF-Seiten).
Update:
- Eine weitere Erläuterung zu den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag und was sie bedeuten haben wir im März 2022 aufgeschrieben.
- Was sollten nächste Schritte der Ampelkoalition sein – Ausblick vom 22.4.2022.
- Umsetzungshilfe für die Koalition: Vier Punkte für ein modernes Gemeinnützigkeitsrecht (Juni 2023)
- Rückblick: Was die Parteien vor der Bundestagswahl 2021 zu Gemeinnützigkeit und Zivilgesellschaft in ihre Programm geschrieben hatten.
Inhaltsverzeichnis
Vereinbarungen zum Gemeinnützigkeitsrecht und benachbarten Themen (Fördermittel)
„Wir modernisieren das Gemeinnützigkeitsrecht, um der entstandenen Unsicherheit nach der Gemeinnützigkeitsrechtsprechung des Bundesfinanzhofes entgegenzuwirken und konkretisieren und ergänzen gegebenenfalls hierzu auch die einzelnen Gemeinnützigkeitszwecke. Wir verbinden dies mit Transparenzpflichten für größere Organisationen.“ (Seite 117, im Abschnitt „Zivilgesellschaft und Demokratie“, Kapitel „Freiheit und Sicherheit, Gleichstellung und Vielfalt in der modernen Demokratie)
„Wir wollen gesetzlich klarstellen, dass sich eine gemeinnützige Organisation innerhalb ihrer steuerbegünstigten Zwecke politisch betätigen kann sowie auch gelegentlich darüber hinaus zu tagespolitischen Themen Stellung nehmen kann, ohne ihre Gemeinnützigkeit zu gefährden. Wir schaffen handhabbare, standardisierte Transparenzpflichten und Regeln zur Offenlegung der Spendenstruktur und Finanzierung.“ (Seite 165, im Steuerkapitel „Zukunftsinvestitionen und nachhaltige Finanzen“)
„Wir schaffen Rechtssicherheit für gemeinnützigen Journalismus und machen E-Sport gemeinnützig. Wir prüfen mit den Ländern eine Förderung unabhängiger Verlage, um die kulturelle Vielfalt auf dem Buchmarkt zu sichern.“ (Seite 123)
„Wir werden das digitale Ehrenamt sichtbarer machen, unterstützen und rechtlich stärken.“ (Seite 17)
„Wir werden bestehende steuerrechtliche Hürden für Sachspenden an gemeinnützige Organisationen durch eine rechtssichere, bürokratiearme und einfache Regelung beseitigen, um so die Vernichtung dieser Waren zu verhindern.“ (Seite 166)
„Wir wollen das zivilgesellschaftliche Engagement durch die Stärkung gemeinnütziger Tätigkeit über Grenzen hinweg fördern. Wir wollen EU-Rechtsformen für Vereine und Stiftungen, die Äquivalenzprüfungen für Gemeinnützigkeit aus anderen Mitgliedstaaten vereinfachen und so grenzüberschreitende Spenden und Kooperationen EuGH-konform erleichtern.“ (Seite 132f.)
„Wir wollen Menschen, die sich bürgerschaftlich engagieren, unterstützen, gerade auch junge Menschen für das Ehrenamt begeistern und daher das Ehrenamt von Bürokratie und möglichen Haftungsrisiken entlasten.“ (Seite 117)
„Wir werden die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt in ihrem Förderauftrag stärken und ihre Mittel erhöhen, damit sie bürgerschaftliches Engagement insbesondere in strukturschwachen Räumen stärker unterstützen kann.“ (Seite 117)
Bewertung und Anmerkungen
Die Vereinbarungen müssen nun umgesetzt und mit Leben gefüllt werden. Vieles ist nur grob vereinbart. Wir erwarten, dass die Koalition 2022 einen Prozess startet, zusammen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, um ein Gesetz auf den Weg zu bringen, eventuell mehrere Gesetze in verschiedenen Geschwindigkeiten.
Ein Zweck wie Menschenrechte wird anders als E-Sport nicht ausdrücklich genannt. Die Verpflichtung, gegebenenfalls Zwecke „konkretisieren und ergänzen“ zu wollen, halten wir für eine ausreichende Grundlage.
An verschiedenen Stellen wird u.a. vereinbart, Kinderrechte ins Grundgesetz zu schreiben (Seite 98), den Gleichbehandlungsartikel des Grundgesetzes um ein Verbot der Diskriminierung wegen sexueller Identität zu ergänzen und den Begriff ‚Rasse‘ im Grundgesetz ersetzen (Seite 121). Aus unserer Sicht folgt daraus eine nötige Ergänzung gemeinnütziger Zwecke oder ein allgemeiner Bezug auf Grundrechte, damit sich zivilgesellschaftliche Organisationen entsprechend engagieren können.
Wenn diese Vorhaben zügig umgesetzt werden, wird das die Belastungen und Sorgen vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen senken. Der Großteil unserer Forderungen wird aufgegriffen. Wir haben auch bereits Vorschläge zu Gesetzesformulierungen gesammelt.
Über die EU-Initiative hinaus gibt es keine weiteren Aussagen zu Änderungen im Vereins- oder Stiftungsrecht (das zusammen mit dem Gemeinnützigkeitsrecht rechtliche Grundlage der meisten Organisationen ist).
Politische Bildung
„Wir wollen die politische Bildung und die Demokratiebildung entlang der Bildungskette stärken, die Projektmittel der Bundeszentrale für politische Bildung erhöhen und die Unabhängigkeit ihrer Arbeit achten.“ (Seite 97)
„Politische Bildung und Demokratieförderung sind mehr gefordert denn je, denn auch in Deutschland steht die pluralistische, freiheitliche Demokratie unter Druck. Akteurinnen und Akteure der nachhaltigen Demokratieförderung, die auf Basis von Respekt, Toleranz, Würde und Menschenrechten arbeiten, werden auch in Zukunft mit öffentlichen Mitteln gefördert. Die Arbeit und Finanzierung der politischen Stiftungen wollen wir rechtlich besser absichern.“ (Seite 11)
Bewertung
Zu einer Neudefinition des gemeinnützigen Zwecks der politischen Bildung findet sich keine Aussage – jedoch kann diese aus der Vereinbarung „konkretisieren und ergänzen gegebenenfalls hierzu auch die einzelnen Gemeinnützigkeitszwecke“ zusammen mit hier beschriebenen Notwendigkeiten folgen.
Mit „politischen Stiftungen“ sind die parteinahen Stiftungsvereine wie Konrad-Adenauer-Stiftungen gemeint (meist als Vereine organisiert). Die Vereinbarung könnte mit umfassen die Forderung nach einem Gesetz, das auch Ausschlusskriterien formuliert, so dass der AfD-verbundene Verein „Desiderus-Erasmus-Stiftung“ von Fördermitteln ausgeschlossen wäre.
Aussagen zu zivilgesellschaftlichem Engagement
„Jede und Jeder hat die gleichen Rechte, sollte die gleichen Chancen haben und vor Diskriminierung geschützt sein. Wir fördern die vielfältige, tolerante und demokratische Zivilgesellschaft.“ (Seite 116)
„Bürgerschaftliches Engagement ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie die Demokratiepolitik in den vergangenen Jahren immer bedeutsamer geworden. Wir wollen Menschen, die sich bürgerschaftlich engagieren, unterstützen, gerade auch junge Menschen für das Ehrenamt begeistern und daher das Ehrenamt von Bürokratie und möglichen Haftungsrisiken entlasten.“ (Seite 117)
„Eine starke Demokratie lebt von den Menschen, die sie tragen. … Ehrenamt und demokratisches Engagement stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie verlässlich zu fördern, ist unsere Aufgabe.“ (Seite 7)
„Zur verbindlichen und langfristig angelegten Stärkung der Zivilgesellschaft werden wir bis 2023 nach breiter Beteiligung ein Demokratiefördergesetz einbringen. Damit stärken wir die zivilgesellschaftliche Beratungs-, Präventions- und Ausstiegsarbeit sowie das Empowerment von Betroffenengruppen und werden sie vor Angriffen schützen.“ (Seite 117)
Bewertung und Anmerkungen
Aussagen, zivilgesellschaftliche Organisationen zu beteiligen, stehen bei fast jedem Abschnitt – nicht vorwiegend bei Außenpolitik, wie zuvor. (Zum Beispiel: „Unser Ziel sind leistungsfähige Kommunen mit einem hohen Maß an Entscheidungsfreiheit vor Ort, eine verlässliche öffentliche Daseinsvorsorge, eine starke Wirtschaft und eine engagierte Zivilgesellschaft. Gleichwertige Lebensverhältnisse sind die Basis für Vertrauen in unsere Demokratie und halten unser Land zusammen.“ – Seite 127) Daran wird auch die Notwendigkeit zu messen sein, ob weitere gemeinnützige Zwecke ergänzt werden müssen oder bestehende Zwecke konkretisiert werden müssen.
Ein Demokratiefördergesetz zur Absicherung wichtiger Aktivitäten war in der vergangenen Koalition gescheitert. Wir können uns vorstellen, dass der Prozess der Reformen des Gemeinnützigkeitsrechts Teil eines solchen Artikel-Gesetzes wäre, um nicht nur Fördermittel bereitzustellen, sondern auch die Grundlage der Tätigkeiten abzusichern.
Abschaffung der Beweislastumkehr
Zur Abschaffung der Beweislastumkehr steht nichts im Koalitionsvertrag. Bündnis 90/Die Grünen hatten die Forderung im Wahlprogramm stehen, die SPD hat dazu einen Parteitagsbeschluss. Wir werden darauf drängen, in den kommenden Gesetzesänderungen und vorangehenden Diskussionen auch dies zu prüfen.
Eine Abgrenzung zu Gegner:innen von Demokratie und Toleranz, eine Abgrenzung zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist unabhängig davon. Es geht hier um das Verfahren der Prüfung und Beweisführung.
Weitere Aussagen zu Transparenz und Lobbyregister
„Wir verbinden dies mit Transparenzpflichten für größere Organisationen.“ (Seite 117, zu Gemeinnützigkeit)
„Wir schaffen handhabbare, standardisierte Transparenzpflichten und Regeln zur Offenlegung der Spendenstruktur und Finanzierung.“ (Seite 165, zu Gemeinnützigkeit, insbesondere politischen Tätigkeiten)
„Wir werden das Lobbyregistergesetz nachschärfen, Kontakte zu Ministerien ab Referentenebene einbeziehen und den Kreis der eintragungspflichtigen Interessenvertretungen grundrechtsschonend und differenziert erweitern. Für Gesetzentwürfe der Bundesregierung und aus dem Bundestag werden wir Einflüsse Dritter im Rahmen der Vorbereitung von Gesetzesvorhaben und bei der Erstellung von Gesetzentwürfen umfassend offenlegen (sog. Fußabdruck).“ (Seite 10, im Kapitel „Moderner Staat, digitaler Aufbruch und Innovationen“)
„Parteiensponsoring werden wir ab einer Bagatellgrenze veröffentlichungspflichtig machen. Die Pflicht zur sofortigen Veröffentlichung von Zuwendungen an Parteien wird auf 35.000 Euro herabgesetzt. Spenden und Mitgliedsbeiträge, die in der Summe 7.500 Euro pro Jahr überschreiten, werden im Rechenschaftsbericht veröffentlichungspflichtig. Wir schützen die Integrität des politischen Wettbewerbs vor einer Beeinträchtigung durch verdeckte Wahlkampffinanzierung mittels so genannter Parallelaktionen. Die Bundestagsverwaltung wird für ihre Aufsichts- und Kontrollfunktion in den Bereichen Transparenz und Parteienfinanzierung personell und finanziell besser ausgestattet.“ (Seite 8)
Bewertung und Ausblick
Das ab 1. Januar 2022 geltende Lobbyregister-Gesetz ist mit heißer Nadel gestrickt und beachtet die Spezifika gemeinnütziger Organisationen nicht ausreichend – Spenden werden quasi mit Aufträgen gleichgesetzt. Eine Organisation, die nur nebenbei Lobbyarbeit betreibt, muss dennoch alle hohen Spenden (auch für humanitäre Zwecke) veröffentlichen.
Es ist sinnvoll, einerseits für umsatzstarke gemeinnützige Organisationen Transparenz zu fordern, etwa auch angedockt an das ab 2024 kommende Zuwendungsempfängerregister. Andererseits braucht es weitere Transparenzregeln für alle politischen Akteur:innen. Eine verdeckte Parteienförderung durch gemeinnützige Organisationen darf es nicht geben.
Die Themen müssen gemeinsam betrachtet werden. #GebündeltNichtGerührt
Wahlrecht und Beteiligung
„Wir werden innerhalb des ersten Jahres das Wahlrecht überarbeiten, um nachhaltig das Anwachsen des Bundestages zu verhindern. … Wir werden die ‚Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit‘ erneut einsetzen. Die Kommission wird sich mit dem Ziel einer paritätischen Repräsentanz von Frauen und Männern im Parlament befassen und die rechtlichen Rahmenbedingungen erörtern. … Wir werden das aktive Wahlalter für die Wahlen zum Europäischen Parlament auf 16 Jahre senken. Wir wollen das Grundgesetz ändern, um das aktive Wahlalter für die Wahl zum Deutschen Bundestag auf 16 Jahre zu senken. Wir wollen die Ausübung des Wahlrechts für im Ausland lebende Deutsche erleichtern.“ (Seite 11 f.)
„Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte nutzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben. Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren. Dabei werden wir auf gleichberechtigte Teilhabe achten. Eine Befassung des Bundestages mit den Ergebnissen wird sichergestellt. Das Petitionsverfahren werden wir insgesamt stärken und digitalisieren und die Möglichkeit schaffen öffentliche Petitionen in Ausschüssen und im Plenum zu beraten.“ Seite 10)
Anmerkung
Das Wahlrecht ist verknüpft mit weiteren Aspekten der Teilhabe. Direkte Demokratie und Abstimmungen sind nicht vorgesehen. Es besteht das Risiko, dass durch von oben geplante Beteiligungsverfahren unabhängige Beteiligung bis hin zum Protest an den Rand geschoben wird statt diese zivilgesellschaftliche Selbstermächtigung zu stärken. Gerade für scheinbar randständige Themen ist die Selbstbefassung nötig.
Zuständigkeiten in Bundestag und Bundesregierung
Keine Aussagen. Geplante Bundestags-Ausschüsse werden nicht genannt – wir wünschen uns einen eigenständigen Ausschuss für Demokratie und Zivilgesellschaft und eine entsprechende Koordination in der Bundesregierung.
Angekündigt wird eine „Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit“ (Seite 11); für die Regierung können „zur ressortübergreifenden Koordinierung besonderer Ziele des Koalitionsvertrages .. Kabinettsausschüsse gebildet werden, deren Aufgaben und Mitglieder einvernehmlich zwischen den Koalitionspartnern festgelegt werden“ (Seite 175).
Der Aufbau des Koalitionsvertrags legt nahe, dass die Förderung der Zivilgesellschaft einen Schwerpunkt im Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat.
Termine und Fristen
- Das Wahlrecht soll innerhalb des ersten Jahres (2022) überarbeitet werden.
- Ein Demokratiefördergesetz soll bis 2023 eingebracht werden, nach breiter Beteiligung – hier auch Gemeinnützigkeitsrecht?
- Gemeinnützigkeitsrecht: ohne Frist
- Wir erarbeiten mit der Zivilgesellschaft eine neue nationale Engagementstrategie: ohne Frist
- Lobbyregistergesetz nachschärfen: ohne Frist
Ihre Unterstützung
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Diesen Text gibt es hier als PDF zum Download.
Vorherige Informationen zur Bundestagswahl 2021 und Gemeinnützigkeit
- BFH-Beschluss zeigt Rechtsunsicherheit auf (28. Oktober 2021)
- Zivilgesellschaftliche Organisationen fordern Verhandlung über Demokratiepolitik (13. Oktober 2021)
- Regierungsbildung: Chancen für Demokratiepolitik und Gemeinnützigkeitsrecht (28. September 2021)
- Was dürfen Vereine im Wahlkampf fordern? (25. August 2021)
- Bündnis für Gemeinnützigkeit fordert Rechtssicherheit für bürgerschaftliches Engagement (18. August 2021)
- Legislaturperiode 2017-2021: Rückblick und Ausblick (13. August 2021)
- Forderungen der Allianz in den Wahlprogrammen (27. Juli 2021)
- CDU/CSU: Gemeinnützigkeit und Wahlprogramm 2021 (26. Juli 2021)
- CSU: Gemeinnützigkeit und Bayernplan 2021 (26. Juli 2021)
- SPD: Gemeinnützigkeit und Wahlprogramm 2021 (26. Juli 2021)
- Grüne: Gemeinnützigkeit und Wahlprogramm 2021 (26. Juli 2021)
- Die Linke: Gemeinnützigkeit und Wahlprogramm 2021 (26. Juli 2021)
- FDP: Gemeinnützigkeit und Wahlprogramm 2021 (26. Juli 2021)
- AfD: Gemeinnützigkeit und Wahlprogramm 2021 (26. Juli 2021)