Pressemitteilung von Attac Deutschland mit Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“ e.V.
- Demokratische Zivilgesellschaft darf nicht weiter behindert werden
- Von Ampel-Koalition versprochene Modernisierung des Gemeinnützigkeitsrechts steht noch aus
- Vor zehn Jahren strich das Finanzamt Frankfurt Attac den Gemeinnützigkeits-Status
Zehn Jahre ist es am kommenden Sonntag (14.4.2024) her, dass Attac Deutschland die Gemeinnützigkeit aberkannt wurde. Das globalisierungskritische Netzwerk agiere zu politisch, begründete das Finanzamt Frankfurt seinen Bescheid vom 14. April 2014. Insbesondere der Einsatz für eine Regulierung der Finanzmärkte, eine Finanztransaktionssteuer – immerhin die Gründungsforderung von Attac – oder eine Vermögensabgabe seien nicht gemeinnützig, hieß es in dem Schreiben.
Seitdem wehrt sich Attac gegen die Aberkennung seiner Gemeinnützigkeit – juristisch und politisch. Die Auseinandersetzung erfuhr dabei von Beginn an große öffentliche Aufmerksamkeit. Denn der „Fall Attac“ hat nicht nur Bedeutung für das Netzwerk selbst, sondern beeinträchtigt auch die gesamte demokratische Zivilgesellschaft.
Dazu sagte Judith Amler vom bundesweiten Attac-Koordinierungskreis am heutigen Mittwoch vor Journalist*innen:
„Der Entzug der Gemeinnützigkeit behindert das Engagement von Attac für eine global gerechte Ökonomie. Die Folgen spüren wir jetzt, nach einem Jahrzehnt, auch wirtschaftlich massiv. Attac steht finanziell unter Druck. Das ist aber nicht alles. Mit Attac ist ein Präzedenzfall geschaffen worden, der kritisches demokratisches Engagement der Zivilgesellschaft nicht nur erschwert, sondern in Teilen sogar verhindert. Gemeinnützige Vereine müssen sich seither immer fragen, ob und wie sie sich demokratisch engagieren dürfen, und halten sich im Zweifel lieber zurück, wie Studien belegen. In Zeiten sinkender Zustimmung zur Demokratie und eines erstarkenden Rechtsextremismus ist das eine fatale Entwicklung. Deswegen kämpfen wir auch nach zehn Jahren weiter dafür, dass die fatale Entscheidung gegen Attac aufgehoben wird.“
Vor drei Jahren, nach Ausschöpfung des Rechtswegs, hat Attac Verfassungsbeschwerde eingelegt. Wann der Fall in Karlsruhe verhandelt wird, ist offen. In der Klageschrift betont Attac, welch wichtige Rolle das Grundgesetz zivilgesellschaftlichen Organisationen neben politischen Parteien im Prozess der Willensbildung gibt. Dazu sagte Professor Andreas Fisahn, der Attac vor dem Bundesverfassungsgericht vertritt, heute:
„Angesichts der großen Bedeutung der Vereinigungsfreiheit in einer pluralistischen Demokratie kann man das Gemeinnützigkeitsrecht – also die Abgabenordnung – verfassungskonform kaum so auslegen, dass die Absicht, auf die politische Meinungsbildung des Volkes Einfluss zu nehmen, ein expliziter Grund ist, eine Gemeinnützigkeit auszuschließen. Dies hat der Bundesfinanzhof in seinem viel diskutierten Attac-Urteil von 2019 verkannt – zum Schaden nicht nur von Attac, sondern von allen demokratisch engagierten Vereinen.“
Auch Stefan Diefenbach-Trommer, Vorstand der Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“, betonte die verheerenden Auswirkungen des Attac-Urteils für breite Teile der Zivilgesellschaft. Die von Attac mitgegründete Allianz, der heute fast 200 Vereine und Stiftungen angehören, setzt sich seit 2015 für ein modernes Gemeinnützigkeitsrecht ein.
„Der Fall Attac bleibt exemplarisch für den Druck auf zivilgesellschaftliches Engagement für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“, sagte Diefenbach-Trommer. „Das Attac-Urteil hatte Schockwellen durch die Zivilgesellschaft gejagt. Doch anders als im Koalitionsvertrag vereinbart hat die Ampel bisher keine Beruhigung und Rechtssicherheit hergestellt. Dabei war die Botschaft des Bundesfinanzhofs: ‚Wenn der Gesetzgeber Engagement für Demokratie, Menschenrechte oder soziale Gerechtigkeit fördern will, dann muss er diese Zwecke auch als gemeinnützig gesetzlich festhalten.‘ Viele Vereine scheitern leider genau daran, dass diese Zwecke im Gemeinnützigkeitsrecht nicht festgeschrieben sind. Engagement für Demokratie oder gegen Antisemitismus wird zwar gelobt und gefordert, aber nicht aktiv gefördert.“
Weitere Informationen und Hinweise:
Selbstzensur durch Attac-Urteil: Dem 2023 erschienen Report „ZiviZ-Survey“ zufolge geben fünf Prozent der befragten Organisationen an, sich aus Sorge, um ihren Gemeinnützigkeitsstatus nicht intensiver politisch zu engagieren. Bei einem von ZiviZ erhobenen Stand von 656.888 zivilgesellschaftlichen Organisationen in Deutschland bedeutet das, dass sich 30.000 Vereine nicht für Demokratie einmischen, obwohl sie es wollen.
Folgen für die politische Bildung: In seinem Attac-Urteil von 2019 hat der Bundesfinanzhof (BFH) u.a. den gemeinnützigen Zweck der (politischen) Bildung ausgesprochen eng ausgelegt. Das unzeitgemäße, verkürzte Verständnis von Bildung des obersten Finanzgerichts wird von Bildungsexpert*innen scharf kritisiert.
Das Urteil des BFH hat zudem massive Auswirkungen für die politische Bildungsarbeit in Deutschland, wie Befragungen zeigen.
Mehr Hintergrund und Dokumente zum „Fall Attac“: www.attac.de/gemeinnuetzigkeit-hintergrund
Ampel-Koalitionsvertrag zu Zivilgesellschaft und Gemeinnützigkeit: https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/ampel-koalitionsvertrag-2021-gemeinnuetzigkeit-zivilgesellschaft/
Modernisierung des Gemeinnützigkeitsrechts – was bisher geschah: https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/modernisierung-des-gemeinnuetzigkeitsrechts-ampel-chronik/
Attac fordert Akteneinsicht: Am Donnerstag, 18. April, ab 10 Uhr verhandelt das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in Berlin die Informationsfreiheitsklage von Attac gegen das Bundesfinanzministerium. Das Ministerium verweigert die Herausgabe von Dokumenten, die Hinweise auf eine politische Einflussnahme des Ministeriums bei der Aberkennung der Gemeinnützigkeit von Attac enthalten könnten. In erster Instanz gewann Attac weitgehend. Dagegen hat das Ministerium Berufung eingelegt.
Der „Fall Attac“ – Chronologie:
Eine ausführlichere Chronologie des Gemeinnützigkeitsstreits von Attac: https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de/attac/
Mit seinem Bescheid vom 14. April 2014 aberkannte das Finanzamt Frankfurt Attac die Gemeinnützigkeit mit der Begründung, das Netzwerk agiere zu politisch. Insbesondere der Einsatz für eine Regulierung der Finanzmärkte, die Einführung einer Finanztransaktionssteuer oder einer Vermögensabgabe sei nicht gemeinnützig, hieß es in dem Schreiben.
Eine erste Klage von Attac vor dem Finanzgericht Kassel im Jahr 2016 war erfolgreich. Als das Finanzamt die Sache daraufhin auf sich beruhen lassen wollte, schaltete sich das damals von Wolfgang Schäuble geführte Bundesfinanzministerium wies das Frankfurter Finanzamt an, Revision vor dem Bundesfinanzhof (BFH) beantragen. Dieser hob in seinem viel kritisierten „Attac-Urteil“ vom Februar 2019 das Urteil der ersten Instanz auf. Dabei steckte der BFH den Rahmen für politisches Engagement von gemeinnützigen Organisationen äußerst eng. Diesem Urteil des BFH folgend mussten die Richter*innen der ersten Instanz die Klage von Attac erneut verhandeln und gegen ihre eigene Überzeugung ablehnen. So kritisierte der Vorsitzende Richter in Kassel, das Urteil des Bundesfinanzhofs sei „mit heißer Nadel gestrickt“.
Die Auseinandersetzung um die Gemeinnützigkeit von Attac hat Bedeutung für die gesamte Zivilgesellschaft. Bereits wenige Wochen nach dem BFH-Urteil im Februar 2019 entzogen Finanzämter weiteren Organisationen die Gemeinnützigkeit. Und auch Vereine, die es nicht getroffen hat, wagen seither weniger, sich politisch einzumischen. Das Urteil des BFH hat das Thema Gemeinnützigkeit auch auf die Agenda der politischen Parteien gesetzt. So hat die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, das Gemeinnützigkeitsrecht zu reformieren, um Rechtssicherheit zu schaffen, hat ihr Versprechen bisher aber nicht erfüllt.
Attac hat im März 2021 Verfassungsbeschwerde gegen die Aberkennung seiner Gemeinnützigkeit eingelegt. Die Verhandlung darüber steht noch aus.
Attac hat die Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“ mitgegründet und setzt sich als Teil dieser Allianz zudem für ein modernes Gemeinnützigkeitsrecht ein, das demokratisches zivilgesellschaftliches Engagement fördert, statt es zu behindern.