Der Bundesfinanzhof (BFH) hat die Fiktion der abgeschlossenen Liste gemeinnütziger Zwecke faktisch aufgehoben. In einem jetzt veröffentlichten Urteil erklären die obersten Finanzrichter, dass die Finanzverwaltung ein Anliegen als gemeinnützig anerkennen muss, wenn das Anliegen keinem der im Gesetz aufgelisteten Zwecke zuzuordnen ist, aber in gleicher Weise wie ein gesetzlicher gemeinnütziger Zweck die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet fördert. Das Gericht verwirft die Behauptung der Finanzverwaltung, dass diese Anerkennung nur möglich sei, wenn das Anliegen sich erst nach der jüngsten Gesetzesänderung neu entwickelt hat.
Entschieden hat der BFH dies am Beispiel des Kartenspiels Bridge: Bridge als Turnier-Veranstaltung sei kein Sport und passe auch zu keinem anderen in der Abgabenordnung genannten Zweck. Jedoch fördere es wie der gesetzlich anerkannte Zweck Schach die Allgemeinheit vor allem auf geistigem Gebiet, da Schach wie Bridge intellektuelle Anstrengung sowie Merk- und Konzentrationsfähigkeit förderten. Damit erfülle Bridge als Turniersport die in der Abgabenordnung dargelegten Wertentscheidungen des Gesetzgebers zu Gemeinnützigkeit.
Das Gericht begründet die Entscheidung mit dem Gleichbehandlungs-Gebot des Grundgesetzes in Artikel 3: Demnach braucht es einen sachlichen Grund, dass Anliegen oder Zwecke verschieden behandelt werden.
Die Auslegung des BFH lässt sich auf weitere Anliegen beziehen. Zum Beispiel ist die Förderung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen ein gemeinnütziger Zweck. Damit ist die Förderung eines der im Grundgesetz genannten Grundrechte steuerlich privilegiert. Warum sollte die Förderung der Verwirklichung eines anderen Grundrechts nicht ebenso die Allgemeinheit auf sittlichem oder ideellem Gebiet fördern? Warum insbesondere nicht das Engagement gegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder der Abstammung?
Die Finanzverwaltung hat bisher argumentiert, solche Zwecke seien nicht anzuerkennen. Der Gesetzgeber habe diese bewusst nicht als gemeinnützig erklärt, obwohl sie ihm bereits bekannt waren, als er die Liste gemeinnütziger Zwecke entschied. Nur Zwecke, die sich aus neuen gesellschaftlichen Entwicklungen ergeben würden und daher dem Gesetzgeber nicht bekannt waren, könnten zusätzlich anerkannt werden. Doch der BFH sagt klar: Das ist keine Anforderung, die das Gesetz nennt. Darum muss sie nicht erfüllt werden.
Verfahren für neue Zwecke
Damit zusätzliche Zwecke anerkannt werden, reicht es dem BFH, wenn das Anliegen nicht bereits einem gesetzlichen Zweck zuzuordnen ist, aber die Allgemeinheit auf gleiche Weise fördert. Ein Antrag auf Anerkennung eines weiteren Zwecks nach § 52, Absatz 2, Satz 2 der Abgabenordnung kann also erst gestellt werden, wenn ein Finanzamt diese Zuordnung verweigert. Im Zweifel müsste dieser Antrag parallel betrieben werden zu einem Einspruch gegen die Zuordnungs-Entscheidung des Finanzamtes.
Während über die Zuordnung des Anliegens zu einem Zweck das örtliche Finanzamt entscheidet, ist für die Anerkennung weiterer Zwecke je Bundesland eine zu benennende Stelle zuständig, meistens das Finanzministerium (§ 52, Absatz 2, Satz 3 der Abgabenordnung) . Ein Verfahren dafür ist nicht geregelt. Sinnvoll wäre es, wenn jedes Finanzamt so einen Antrag entgegennehmen und weiterleiten müsste oder auch von sich aus das Verfahren einleiten könnte.
Der BFH hat zum Verfahren zwei wichtige Festlegungen zugunsten der Antragsteller getroffen:
- Antragsteller haben einen Anspruch auf Entscheidung und können gegen eine Ablehnung klagen bzw. Einspruch einlegen.
- Die Entscheidung über den Antrag darf die zuständige Landesstelle nicht von einer bundeseinheitlichen Abstimmung abhängig machen, wie es derzeit im Anwendungserlass festgelegt ist (Ziffer 2.6 zu § 52 der AO, Nachtrag: Ziffer 2.10 ab 2021).
Die Finanzverwaltung ist nun am Zug, das Verfahren besser zu strukturieren und so zu ermöglichen, dass weitere wichtige gesellschaftliche Anliegen gemeinnützig werden können. Nötig wäre eine öffentliche Auflistung, welche Anliegen welchen Zwecken zugeordnet werden. Darin müssten auch zusätzlich anerkannte Zwecke enthalten sein. Diese Liste würde Gründerinnen und Gründern von Initiativen ebenso helfen wie den Finanzämtern vor Ort. Sollte die Verwaltung dieses Verfahren nicht vereinfachen, muss der Bundestag die Initiative ergreifen.
Acht Jahre Warten auf Gemeinnützigkeit
Dass eine klare Regelung nötig ist, zeigt der Verlauf des Bridge-Verfahrens: Erst acht Jahre nach seinem Antrag hat der klagende Bridge-Verband endgültig Recht bekommen und musste bis dahin ohne Gemeinnützigkeit auskommen. Am 31. März 2009 hatte der Verband den Antrag auf Anerkennung des Zwecks gestellt. Erst anderthalb Jahre später entschied das Finanzamt darüber, zwei weitere Jahre dauerte das Einspruchsverfahren. Immerhin innerhalb eines Jahres entschied das Finanzgericht über die Klage des Verbands. Gegen die Finanzgerichts-Entscheidung legte die Finanzverwaltung Revision ein, die dann nach weiteren dreieinhalb Jahren entschieden wurde.
Zum Vergleich: Attac ist derzeit seit dreieinhalb Jahren ohne Gemeinnützigkeit. Im April 2014 hatte das Finanzamt die Gemeinnützigkeit aberkannt, zweieinhalb Jahre später fand die Gerichtsverhandlung dazu statt. Sollte es zu einer Revision vor dem BFH kommen, wäre wie im Bridge-Beispiel mit mindestens weiteren drei Jahren bis zur Entscheidung zu rechnen.