Pressestatement der Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“ e.V. zum drohenden Verlust der Gemeinnützigkeit des deutschen Change.org-Vereins
- Finanzamt Berlin meint, der Change.org-Verein fördere nicht Allgemeinheit, sondern Einzelinteressen
- Spender können wegen fehlendem Bescheid Spenden nicht geltend machen
- Bundestag und Finanzministerium müssen Rechtssicherheit schaffen
Zum aktuellen Bericht des „Spiegel“ über die Gemeinnützigkeit des deutschen Change.org-Vereins erklärt Stefan Diefenbach-Trommer, Vorstand der Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“, einem Zusammenschluss von mehr als 150 Vereinen und Stiftungen:
„Die bekannt gewordene Auseinandersetzung um die Gemeinnützigkeit des Change.org-Vereins (neue Website: verein.innn.it) zeigt, dass die politische Einmischung gemeinnütziger Organisationen auf höchst gefährlichem Grund geschieht. Nach Attac, Campact, DemoZ und der VVN-BdA ist dies nun der fünfte in diesem Jahr bekannt gewordene Fall. Der Bundestag muss dringend Rechtssicherheit für das selbstlose Engagement für Demokratie, Menschenrechte und weitere wichtige Anliegen schaffen. Im Gesetz fehlen klare Zwecke für die Förderung von Demokratie und Grundrechten. Es fehlt eine Klarstellung, dass gemeinnützige Organisationen diese und andere Zwecke auch mit politischen Mitteln verfolgen dürfen.
Die Trennlinie zu Wirtschaftsverbänden, kommerziellen Lobby-Kampagnen oder auch eigennützigen Individual-Interessen liegt in der selbstlosen Förderung der Allgemeinheit. Wenn das Finanzamt behauptet, der Change.org-Verein fördere Partikular-Interessen, verkennt es diese Trennlinie und die Bedeutung des Allgemeinwohls. Das Allgemeinwohl steht nicht fest. Was die Allgemeinheit am besten fördert, ist eine stetig wiederholte demokratische Entscheidung. Der Streit darum ist politisch. Deshalb handeln gemeinnützige Organisationen stets politisch, wenn sie auf das Allgemeinwohl einwirken.
Dass eine Privatperson eine Initiative startet, macht das Begehren noch nicht zum Privatinteresse. Wer das glaubt, beschneidet die Bürgerinnen und Bürger in ihren individuellen demokratischen Rechten. Natürlich kann auch die Aktivität einer kleinen Gruppe zum Allgemeinwohl oder zum produktiven Streit darum beitragen. Die vom Change.org-Verein unterstützten Petitionen zielen offensichtlich auf das Gemeinwohl, nicht auf persönliche wirtschaftliche Vorteile.
Bis der Gesetzgeber Klarheit schafft, sollte das Bundesfinanzministerium mit deutlichen Erklärungen und Anweisungen dafür sorgen, dass das Recht der Gemeinnützigkeit richtig interpretiert wird. Der geltende Anwendungserlass ist zu politischen Mitteln und zum Zweck ‚Förderung des demokratischen Staatswesens‘ unklar und verwirrend. Das produziert falsche Entscheidungen zum Schaden von Demokratie und Zivilgesellschaft.
Auf eine letztinstanzliche Gerichtsentscheidung zu warten hieße, fünf weitere Jahre Rechtsunsicherheit zu schaffen. Tatsächlich hat der Bundesfinanzhof (BFH) den Zweck ‚Förderung des demokratischen Staatswesens‘ bisher nicht interpretiert und sich im Fall Attac darum gedrückt. Die Interpretation können Gesetzgeber oder Finanzministerium ebenso übernehmen.“
Eine Vielzahl von Vereinen und Stiftungen fühlt sich durch das unklare Gemeinnützigkeitsrecht bedroht. Mehr als 150 Vereine und Stiftungen haben sich in der Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“ zusammen geschlossen, um das Gemeinnützigkeitsrecht zu modernisieren und die selbstlose politische Einmischung etwa für Grundrechte und gemeinnützige Zwecke abzusichern. Zu den Mitgliedern gehören neben Amnesty International, Brot für die Welt und Transparency International auch Attac, Campact und der Change.org-Verein.
Weitere Infos: https://www.zivilgesellschaft-ist-gemeinnuetzig.de
Hintergrund
- Vorabbericht des „Spiegel“ vom Freitag, 13. Dezember 2019
- Erklärung und ErklärVideo des Change.org-Vereins
Der Fall Change.org-Verein liegt erneut anders als Campact, DemoZ und die VVN-BdA. Hier ist insbesondere der Zweck „allgemeine Förderung des demokratischen Staatswesens“ einschlägig. Der enthält unter anderem die Einschränkung „hierzu gehören nicht Bestrebungen, die nur bestimmte Einzelinteressen staatsbürgerlicher Art verfolgen“. Diese Einschränkung wiederholt nur das generelle Gemeinnützigkeits-Gebot, dass selbstlos die Allgemeinheit gefördert werden muss.
Zur Interpretation dieses gemeinnützigen Zwecks gibt es bisher kein höchstrichterliches Urteil. Der Bundesfinanzhof hatte sich beim Attac-Urteil darum gedrückt und lediglich den Zweck der (Volks-)Bildung untersucht, obwohl Attac laut Satzung weitere Zwecke verfolgt. Das Hessische Finanzgericht hatte dagegen geurteilt, das Engagement etwa für ein gerechtes Steuersystem sei eine Förderung des Demokratischen Staatswesens.
Das Finanzamt wirft dem Change.org-Verein vor, mit der Unterstützung ausgesuchter Petitionen nicht mehr das Allgemeinwohl, sondern Einzelinteressen zu fördern. Nach Ansicht des Finanzamtes fördert es wohl schon das Allgemeinwohl und das demokratische Staatswesen, wenn eine Petitions-Plattform zur Verfügung gestellt wird. Es geht also unter anderem um die Abgrenzung von Gemeinnutz und Eigennutz.
Das Allgemeinwohl steht nicht fest, sondern wird in einer Demokratie immer wieder neu etwa durch Parlamentsentscheidungen bestimmt. Der Streit darum, was das Beste für die Allgemeinheit ist (und wer zur Allgemeinheit gehört), ist ein politischer Streit. Die vom Change.org-Verein besondes geförderten Kampagnen führen nicht zu wirtschaftlichen Vorteilen für die Petenten, sondern beziehen sich stets auf das Allgemeinwohl.
Anders als bei Attac, Campact und DemoZ hat das Finanzamt dem Verein nicht aktiv die Gemeinnützigkeit entzogen (diesen Schritt jedoch angekündigt). Jedoch hat das Finanzamt auch noch nicht die Gemeinnützigkeit durch einen Steuerbescheid bestätigt. Da der Anerkennungsbescheid nach § 60a der Abgabenordnung nun älter als drei Jahre ist, kann der Verein keine Spenden mehr bescheinigen. Ob der Change.org-Verein gemeinnützig ist oder nicht, ist ungewiss. Ähnlich verhält es sich auch bei Attac: Weder gibt es einen gültigen Anerkennungs-Bescheid noch einen rechtskräftigen negativen Bescheid.
Leidtragende sind vor allem die Spenderinnen und Spender, die nicht wissen, ob sie ihre Spenden steuerlich absetzen können – und nicht wissen, ob sie die im Januar in ihre Steuererklärung eintragen dürfen oder nicht.
Fakten zu Gemeinnützigkeit
Das Recht der Gemeinnützigkeit ist Teil des Steuerrechts, prägt aber den gesamten Sektor zivilgesellschaftlicher Organisationen. Der Status der Gemeinnützigkeit ist nicht nur Voraussetzung dafür, das Spenderinnen und Spender ihre Zuwendungen steuerlich geltend machen können, sondern auch für viele Fördermittel, für die Zusammenarbeit mit Dritten und für indirekte Vorteile.
Ob die Organisationen die Voraussetzungen erfüllen, prüft das örtliche Finanzamt in zwei Schritten. Es stellt zunächst fest, ob die Satzung den Vorgaben entspricht. Das ist beim Change.org-Verein am 26. Oktober 2016 geschehen. Und dann prüft es meist alle drei Jahre rückwirkend, manchmal auch jährlich, ob die so genannte „tatsächliche Geschäftsführung“ der Satzung und den gesetzlichen Regeln entspricht. Für die Jahre 2016 und 2017 hat der Verein bisher keinen Steuerbescheid erhalten.
Einige zentrale Regeln der Gemeinnützigkeit sind:
- Gemeinnützige Organisationen müssen in Paragraph 52 der Abgabenordnung genannte Zwecke verfolgen – dort steht zum Beispiel Umweltschutz. Sie dürfen nur den Zweck verfolgen, der in ihrer Satzung steht. In der Wahl der Mittel sind sie weitgehend frei. Einflussnahme auf die politische Willensbildung zur Verfolgung des Zwecks ist dem Gesetz nach möglich.
- Gemeinnützige Organisationen müssen selbstlos handeln, also nicht zum wirtschaftlichen Vorteil ihrer Mitglieder oder Spender. Erlaubt sind wirtschaftliche Betätigungen, um Einnahmen zu erzielen oder um damit den gemeinnützigen Zweck zu verfolgen.
- Gemeinnützige Organisationen dürfen keine Parteien unterstützen. Anders als gemeinnützige Organisationen müssen Parteien nicht selbstlos sein. Sie sind an keinen spezifischen Zweck gebunden und können unbegrenzt Rücklagen bilden. Für sie gelten schwache Regeln öffentlicher Transparenz über Mittelherkunft und Ausgaben. So müssen etwa Spenden ab 50.000 Euro der Bundestagsverwaltung gemeldet werden.
- Das Gemeinnützigkeitsrecht verlangt keine Transparenz. Der Status der Gemeinnützigkeit fällt sogar unter das Steuergeheimnis. Viele gemeinnützige Organisationen geben freiwillig umfassend Auskunft über Mittelherkunft und Mittelverwendung. Ein Standard dafür ist die „Initiative Transparente Zivilgesellschaft“.
Der Zweck „Förderung des demokratischen Staatswesens“ wurde 1983 im Zuge der Neuordnung des Parteifinanzierungsgesetzes als damals dritter gemeinnütziger Zweck in die Abgabenordnung eingefügt. In der Beschlussempfehlung des Innenausschusses vom 29. November 1983 (Drucksache 10/697) steht dazu:
„Nachdem der Begriff der staatspolitischen Zwecke durch den neuen Absatz 2 des § 10b des Einkommensteuergesetzes auf Parteien beschränkt wird, wird die sonstige Förderung des demokratischen Staatswesens im Geltungsbereich des Grundgesetzes einschließlich des Landes Berlin den gemeinnützigen Zwecken zugeordnet. Dadurch bleiben Spenden an die in Abschnitt 112 der Einkommensteuer-Richtlinien genannten Institutionen im Rahmen des § 10b Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes steuerlich begünstigt.“
Wenn eine Organisation als „zu politisch“ aus der Gemeinnützigkeit fällt, fällt sie damit nicht unter das Parteienrecht. Voraussetzung dafür ist, dass sie ernsthaft zu Wahlen antritt (siehe §2, Abs. 1 des Parteiengesetzes). Eine Organisation, die weder Partei noch gemeinnützig ist, erhält keine Vorteile für Spenden, muss keine Transparenzpflichten erfüllen und muss keine Vorgaben wie Zweckbindung oder Selbstlosigkeit einhalten.
Von Change.org zu Innn.it
Der Change.org-Verein hat sich im Jahr 2022 in innn.it umbenannt und die Zusammenarbeit mit der Plattform „Change.org“ beendet. Die Links im Text oben sind daher zum Teil veraltet oder angepasst. Mehr dazu hier.