Krieg und militärische Gewalt sind ganz sicher die weitreichendste Beschränkung von Handlungsmöglichkeiten. Zugleich zeigt sich in kriegerischen Situationen der Wert einer engagierten Zivilgesellschaft: Als eine Kraft jenseits von verfeindeten Regierungen. Als mögliche Quelle von Begegnung und Versöhnung. Als gewaltfreie Streiterin für Menschenrechte. Als Beobachterin und Wächterin von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Und auch als humanitäre Helferin.
Autokrat:innen wie Wladimir Putin kennen diese Funktionen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Weite Handlungsräume der Zivilgesellschaft begrenzen ihre Macht.(Das Gegenwort ist: Shrinking Spaces.) Deshalb ist für Putin die Zivilgesellschaft eine Gegnerin. Die Kolleg:innen vom Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) haben das bereits vor zwei Wochen so analysiert: Die Putin-Rede vom 21. Februar ist auch eine Kriegserklärung an die internationale Zivilgesellschaft, an Nichtregierungsorganisationen (NGO).
„Bei der einstündigen Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin am 21. Februar 2022 wird leicht übersehen, dass er nicht nur auf territoriale Grenzverschiebungen zugunsten Russlands abzielt – er hat auch der internationalen Zivilgesellschaft den Krieg erklärt. Sie stört ihn nicht nur in Russland, weshalb er dort mit dem NGO-Gesetz über ‚ausländische Agenten‘ immer mehr international agierende oder geförderte NGO zerstört oder mundtot gemacht hat. Zuletzt hatte es Memorial getroffen, nicht zufällig im Kontext eines polnischen Films über Stalins Verbrechen in der Ukraine. In der Ukraine sieht Putin NGOs neben den USA als den zweiten Aggressor an, die zusammen die Ukraine übernommen hätten und die Sicherheit Russlands bedrohen würden:
‚(…) Ukraine itself was placed under external control, directed not only from the Western capitals, but also on the ground, as the saying goes, through an entire network of foreign advisors, NGOs and other institutions present in Ukraine.'“
Keine Rechtsstaatlichkeit ohne Zivilgesellschaft
Dies zeigt: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit brauchen zivilgesellschaftliche Organisationen, unabhängig von Regierungen. Die Organisationen brauchen weite Handlungsräume statt Beschränkungen und bürokratischer Kontrolle. Wem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Weg sind, der*die zielt auf diese Organisationen. Wer diese Organisationen attackiert, zeigt damit oft ein ungesundes Verhältnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Der zivilgesellschaftliche Handlungsraum ist in Deutschland weit offen – und hat dennoch Grenzen, an die Vereine und Stiftungen dann und wann stoßen. Ein Schritt gegen Aggressor:innen wie Putin, die auf Regeln pfeifen und Interessen mit Gewalt durchsetzen wollen, ist auch, den zivilgesellschaftliche Freiraum für alle zu sichern, zu weiten, hochzuhalten. Als Leuchtturm.
Zivilgesellschaftliche Organisationen wirken auf die Willensbildung ein. Sie wenden sich auch in Deutschland mit politischen Forderungen an Parlament und Regierung. Einige fordern Waffenlieferungen für die Ukraine. Andere verlangen wirtschaftliche Sanktionen. Andere (oder gleiche) werben für Konzepte ziviler Konfliktbearbeitung.
In der Demokratie entscheiden gewählte Politiker:innen. Sie agieren im staatlichen Sektor. Der Staat setzt die Entscheidung durch, sorgt für Einheitlichkeit, er erklärt die Entscheidung auch.
Funktionen zivilgesellschaftlicher Organisationen
Vereine, Stiftungen und weitere Gruppen agieren im zivilgesellschaftlichen Sektor. Zu ihren Funktionen gehört auch, Entscheidungen zu fordern, sie zu begrüßen oder sie zu kritisieren, für oder gegen etwas zu demonstrieren, Expertise den Politiker:innen und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Und das in Vielfalt, auch mit gegensätzlichen Forderungen. Und vor allem: Zivil, nicht militärisch. Zu den möglichen Forderungen zivilgesellschaftlicher Organisationen kann eine Pflicht zum Kriegsdienst gehören oder auch die Forderung, die Armee oder die Soldat:innen besser auszustatten. Stricken für die Front oder auch Sammlungen etwa von „tactical clothes“ für Kämpfer:innen – ob das noch dazu gehören kann, diskutieren die Kolleg:innen von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen (BAGFA) in ihrem neuesten Newsletter.
Sicher scheint: Wer selbst kämpft, gehört nicht zur Zivilgesellschaft. Allein schon aus völkerrechtlichen Gründen wie Abkommen zum Schutz von Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung sollten militärisch Kämpfende eindeutig zum Sektor des Staats gehören. Krieg sollte auch nicht das Geschäft des Wirtschaftssektors sein. Zivilgesellschaftliche Organisationen springen in vielen Bereichen für den Staat oder überstaatliche Organisationen ein, ob in der Seenotrettung im Mittelmeer oder bei der Versorgung Geflüchteter. Im militärischen Kampf sollten sie das nicht tun.
Ganz nebenbei wird hier ein Unterschied zwischen Zivilbevölkerung und Zivilgesellschaft deutlich. Nicht alle Zivilist:innen engagieren sich in der Zivilgesellschaft. Auch Staatsbeschäftigte, auch als Angestellte des Militärs, können sich privat in der Zivilgesellschaft engagieren.
Teile der Zivilgesellschaft: Friedensbewegung, Geflüchtetenhilfe
„Wo ist die Friedensbewegung jetzt?“ war ein reflexhafter Ruf, eher ein Vorwurf, manchmal Häme, als am 24. Februar 2022 die russische Invasion begann. Derweil organisierten zahlreiche Organisationen und Initiativen bereits Demos und Mahnwachen. Oder waren mit handfester Solidarität beschäftigt: Sorge um Partner:innen in der Ukraine und Russland, Suche nach Fluchtmöglichkeiten.
Organisationen der Friedensbewegung haben bereits seit 2014 den Ukraine-Russland-Konflikt begleitet und analysiert, vor der militärischen Eskalation und dem kaum wahrgenommenen Krieg an der Grenze gewarnt. Ihre Analysen und Forderungen wurden und werden politisch und medial leider wenig wahrgenommen.
Politische Einmischung gehört dazu
Gemeinnützige Organisationen in Deutschland können sich zu Krieg und Frieden äußern und ihre Stimme in die Debatte geben. Das war lange unklar, aber haben die Finanzminister:innen von Bund und Ländern vor einigen Wochen mit Ergänzungen des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung (AEAO) endlich klargestellt: „In Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist es nicht zu beanstanden, wenn eine steuerbegünstigte Körperschaft außerhalb ihrer Satzungszwecke vereinzelt zu tagespolitischen Themen Stellung nimmt (z.B. ein Aufruf eines Sportvereins für Klimaschutz oder gegen Rassismus).“
Ob und wie ein Sport- oder Gesangsverein sich äußert, ist seine eigene, innerdemokratische Angelegenheit. Der Staat darf sich nicht einmischen, solange der Verein nicht zu Gewalt oder Straftaten aufruft. Dieser Freiraum besteht nun – aber die Verwaltungsanweisung reicht noch nicht. Gerade unter dem Eindruck eines Kriegs auch gegen die Zivilgesellschaft braucht es Leuchtturm-Länder, die das vielfältige Engagement zivilgesellschaftlicher Organisationen absichern und deren Funktion nicht auf Hilfe für Menschen in Not reduzieren.
Und selbst diese Hilfe in Not ist oft politische Einmischung. Zivilgesellschaftliche Organisationen weisen drauf hin, dass die Fluchtwege aus der Ukraine nach Westeuropa nicht für alle offen sind: Nicht für Männer, die zur Armee eingezogen werden sollen. Nicht für Marokkaner:innen oder Nigerianer:innen, die in der Ukraine leben und auch jetzt nicht visafrei in den Schengenraum kommen.