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Neues zu Shrinking Spaces in Deutschland

Bei uns in Deutschland herrschte lange und herrscht heute größtenteils immer noch das Gefühl, in einem der demokratischsten, fairsten und offensten Länder zu leben, zumindest verglichen mit anderen Länder der Welt. Die erstmalige Einstufung von Amnesty International als Land mit eingeschränktem zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraum erschreckte vor einigen Wochen.Wie steht es denn aktuell eigentlich bei uns um zivilgesellschaftliche Freiräume?

Shrinking Spaces (manchmal auch shrinking civic spaces) ist der internationale Fachbegriff für den Versuch, den Handlungsspielraum zivilgesellschaftlicher Organisationen zu beschränken. Meist geht es um staatliche Mittel, um unliebsame Kritik zu begrenzen oder zu verbieten. Die Mittel können mal formal legal sein wie ein Gesetz, mal illegales Handeln staatlicher Organe. Zu Shrinking Spaces gehört auch fehlender staatlicher Schutz. Insbesondere, wenn der Schutz fehlt, können auch nichtstaatliche Akteure den Handlungsraum begrenzen, unter anderem durch Diffamierungen.

Wir haben gesammelt, was bei uns in Deutschland in den letzten Wochen Aktuell war:

Amnesty International prangert Gewalt gegen Demonstrierende an

Die Versammlungsfreiheit wird in Deutschland zunehmen eingeschränkt – zu diesem Ergebnis kam Amnesty International erstmalig im September diesen Jahres. 
2022 sei in 86 von 156 untersuchten Ländern unrechtmäßige Gewalt gegen friedliche Demonstrierende eingesetzt worden. In 79 Ländern seien Demonstrierende willkürlich verhaftet worden. Auf einer interaktiven Weltkarte kann man auf der protect-the-protest-Karte nachschauen.

Bezogen auf Deutschland geht es konkret um Präventivhaft, Schmerzgriffe, repressive Gesetzgebung und Versammlungsverbote. Vor allem Menschen, die sich für mehr Klimaschutz einsetzen, seien verstärkt Repressionen ausgesetzt, wie mitunter der Präventivhaft in Bayern – eine umstrittene Praxis, die auf dem bayrischen Polizeiaufgabengesetz fußt und in ihrem Zweck der Terrorabwehr dient.

Die Organisation kritisiert erstmals in diesem Zusammenhang die Präventivhaft und präventive Versammlungsverbote für Klimaaktivist:innen in Deutschland als unverhältnismäßig.
Auch auf das pauschale Versammlungsverbot zum Nakba-Gedenken wird Bezug genommen.
In der Pressemitteilung Amnestys vom 19. September heißt es hierzu:

„In Deutschland werden Proteste von staatlichen Behörden mitunter als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wahrgenommen und deshalb eingeschränkt. Das bereitet uns große Sorge. Protest wird teils kriminalisiert und dämonisiert, statt ihn als Menschenrecht zu achten und als Kern einer lebendigen Zivilgesellschaft anzuerkennen. Wir appellieren an die Bundes- und Landesregierungen, die Versammlungsfreiheit in Deutschland umfassend zu schützen.“

Bundesrat fordert strafrechtlichen Schutz für gemeinnütziges Engagement

Vor diesem Hintergrund hat der Bundesrat am 20. Oktober auf Antrag von Bayern beschlossen, dass gemeinnütziges Engagement mit einer Änderung des Strafgesetzbuches geschützt werden soll. Ob und wann der Bundestag dem zustimmt, so dass der Vorschlag Gesetz wird, ist offen.

Bei der Höhe der Strafe soll demnach künftig auch eine Rolle spielen, ob die Tat geeignet ist, „gemeinnütziges Engagement des Geschädigten nicht nur unerheblich zu beeinträchtigen“ (Ergänzung in §46 StGB). Bayern geht es unter anderem um psychische und physische Angriffe auf kommunale Mandatsträger:innen, Flüchtlingshelfer:innen oder Schiedsrichter:innen. Würden Bundesrat und Bundestag dem folgen, würden wohl auch Personen härter bestraft, die gewaltsam gegen Klimaschutz-Akivist:innen vorgehen.

Der Gemeinnützigkeits-Begriff ist dabei nicht ganz klar: Er knüpft nicht ausdrücklich an die Abgabenordnung an. Erwähnt werden dann auch ehrenamtliche Mandatsträger:innen, die in dem Sinne nicht gemeinnützig engagiert sind. Auch ein Großteil klimaaktivistischer Gruppen sind nicht in gemeinnützigen Gruppen oder Vereinen organisiert.

Vor mehreren Jahren wollte Bayern bereits per Bundesrats-Antrag regeln lassen, dass gemeinnützige Organisationen Einnahmen aus dem Ausland offen legen müssen.

Kritik aus der EU an  Deutschland

Es ist bereits einige Monate her, dass der neueste EU-Rechtsstaatsbericht der Kommission nach Deutschland mahnte. Erneut wurde auf eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts gedrängt, welches zu viele Unsicherheiten für Vereine beinhalte. Deutlich herauszulesen war die Unzufriedenheit, dass die vorigen Empfehlungen zum Freiraum für zivilgesellschaftliche Organisationen nicht beachtet wurden.
Es wurde erneut empfohlen, „den Plan zur Anpassung der Steuerbefreiung von gemeinnützigen Organisationen weiterzuverfolgen, um die Herausforderungen anzugehen, die mit den derzeit geltenden Vorschriften für deren Betrieb in der Praxis verbunden sind, wobei europäische Standards für die Finanzierung zivilgesellschaftlicher Organisationen zu berücksichtigen sind“ – fast wortgleich lautete die Empfehlung bereits vor einem Jahr. Fortschritte waren nicht zu erkennen, was die Grundlage unserer unermüdlichen Weiterarbeit darstellt.
Der Bericht fußt auf umfassenden Informationen, erwähnt die Reform des Anwendungserlasses (AEAO) und die Koalitionsvereinbarung, aber hält fest: „Bislang wurden allerdings noch keine konkreten Schritte eingeleitet.“

Auch wir berichteten dazu bereits ausführlicher.

Atlas der Zivilgesellschaft und zivile Handlungsspielräume

Die Formulierung der „offenen“ und „geschlossenen“ zivilen Handlungsspielräume prägt maßgeblich auch der Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt und Civicus.

Nach dem aktuellsten Bericht lebt mehr als ein Viertel der Menschheit in Ländern mit geschlossenen zivilgesellschaftlichen Handlungsräumen. Auch wenn Amnesty International erstmalig in Deutschland die Versammlungsfreiheit als eingeschränkt einstuft, gehört Deutschland hier zu den kleinen Flächen auf der Karte, die mit grün als nach wie vor „offen“ gekennzeichnet sind.

Dagmar Pruin, die Präsidentin von Brot für die Welt, setzte dies jedoch in Kontext und spricht die gleichen Punkte an, wie einige Wochen später auch Amnesty: „Auch die grünen [offenen] Länder sind keine Paradiese der Freiheit. Auch in Deutschland zum Beispiel haben Justiz und Politik mindestens fragwürdige Entscheidungen getroffen gegen engagierte Menschen aus der Zivilgesellschaft.“ Im Atlas geht es unter anderem um Beschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und um Druck auf Klimaaktivist:innen. Schwerpunkt ist Migration – beziehungsweise deren Abwehr. Auf 20 Seiten illustriert der Atlas eine alarmierende Entwicklung: Wer sich für Menschen einsetzt, die Schutz und Unterstützung am dringendsten brauchen, wird kriminalisiert, an der Arbeit gehindert oder bedroht. Beim Thema Migration werde sichtbar, wie die Zivilgesellschaft zunehmend unter Druck gerät.
Brot für die Welt forderte daher erneut von Bundesregierung und Bundestag sicherzustellen, dass „alle Vereine in Deutschland, die sich zu allgemeinpolitischen Themen, Menschenrechten und für das Gemeinwohl engagieren, als gemeinnützig anerkannt werden ‒ und dafür einen entsprechenden Rechtsrahmen schaffen“.

Entpolitisierung gemeinnützigen Handelns

Unter dem Titel „Politische Betätigung – Was sollen, können, wollen und brauchen steuerbegünstigte Körperschaften?“ hat Stefan Diefenbach-Trommer bei der Septembertagung des Leipziger Zentrums für Non-Profit-Recht Mitteldeutschland im Oktober über gefährliche Entpolitisierung von Debatten und auch Gemeinnützigkeit gesprochen. Im Kontext geht es auch im shrinking civic spaces und eine gesellschafts- , rechts- und politikwissenschaftliche Einordnung gemeinnützigen Handelns.

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