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Zivilgesellschaft wird auch in Europa beschränkt

Der Freiraum für zivilgesellschaftliche Betätigung ist unabdingbar für die Entwicklung der Demokratie, für die Verteidigung von Menschenrechten. Zivilgesellschaftliche Akteur:innen übernehmen wichtige demokratische Funktionen. Vereine und Initiativen können in der Öffentlichkeit Themen setzen oder auf Probleme aufmerksam machen, an die sich staatliche Stellen nicht herantrauen. Eine unabhängige und kritische Zivilgesellschaft, die sich an Menschenrechten orientiert, nimmt die Rolle einer Wächterin ein. Deshalb fördert die Bundesregierung die Zivilgesellschaft in anderen Ländern. Doch auch im Inland gibt es Lücken. Der Atlas der Zivilgesellschaft 2022  und der Amnesty-Report 2021/2022  schauen auf die Schattenseiten.

Atlas der Zivilgesellschaft 2022: Downgrade in Europa

Brot für die Welt hat am 6. April zusammen mit Civicus die neue Ausgabe des „Atlas der Zivilgesellschaft vorgestellt. Inhaltlicher Schwerpunkt ist in diesem Jahr die Digitalisierung. 14 Länder haben sich in der Einstufung des Freiheitsgrades für zivilgesellschaftliches Engagement verschlechtert, darunter auch Polen, das nun neben Ungarn als zweites EU-Mitglied in der Kategorie „beschränkt“ eingestuft wird. Im Vorwort (Seite 3 der PDF) schreibt Brot für die Welt: „Zivilgesellschaftliche Organisationen leiden immer stärker unter Einschränkungen, Verboten und Repressionen. … Deutschland gehört weiterhin zu den offenen Staaten. Doch auch hier ist die Situation für die Zivilgesellschaft nicht perfekt. … Des Weiteren ist zu beobachten, dass zivilgesellschaftliche Organisationen und Freiwillige, die sich etwa in der Flüchtlingsarbeit oder für Klima- und Umweltschutz engagieren, immer häufiger attackiert und bedroht werden. Nicht nur über die Sozialen Medien, sondern auch physisch.“

Daher gehört zu den Forderungen (Seite 82): „Bundesregierung und Bundestag sollten sicherstellen, dass … Vereine in Deutschland, die sich zu allgemeinpolitischen Themen und für das Gemeinwohl engagieren, als gemeinnützig anerkannt werden ‒ und dafür einen entsprechenden Rechtsrahmen schaffen.“

Auf Seite 18 wird der Begriff der Zivilgesellschaft beschrieben:

„Zivilgesellschaft grenzt sich vom staatlichen und wirtschaftlichen Sektor sowie von der Privatsphäre ab. Sie ist eine lebendige Arena des kollektiven öffentlichen Handelns mit Positionen zu gesellschaftlichen Fragestellungen, Lösungen und Verfahren. Zivilgesellschaftlichen Akteur:innen sind etwa Vereine, NGOs, Verbände, Kirchen und soziale Bewegungen. Ihr Engagement beruht auf Selbstorganisation, ist rechtlich gemeinnützig, nicht profitorientiert und unabhängig von parteipolitischen Interessen. Zivilgesellschaftliche Akteur:innen haben viele Rollen: Sie leisten Hilfe für sozial Bedürftige und Schwache, übernehmen aber auch wichtige demokratische Funktionen. Vereine und Initiativen können in der Öffentlichkeit Themen setzen oder auf Probleme aufmerksam machen, an die sich staatliche Stellen nicht herantrauen. Sie können Druck aufbauen, damit sich etwas ändert. Sie sind auf Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Zugang zu Informationen, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit angewiesen. Eine unabhängige und kritische Zivilgesellschaft, die sich an Menschenrechten orientiert, nimmt die Rolle einer Wächterin ein: Sie fordert Rechte von Benachteiligten ein, kritisiert die öffentliche Politik, setzt sich für politische Mitgestaltung ein und zieht die Regierung zur Rechenschaft.“

Auf der Themenseite zum Atlas finden sich eine Weltkarte mit den Einstufungen und viele Texte.

Amnesty-Report: Druck auf Vereinigungsfreiheit

Im Amnesty-Report 2021/2022 vom 29. März 2022 werden zivilgesellschaftliche Freiräume als eines von drei zentralen Menschenrechts-Themen weltweit betrachtet. Amnesty international konstatiert:

„Anstatt Raum zu bieten für Diskussionen und Debatten, wie sich die Herausforderungen des Jahres 2021 am besten meistern lassen, behielten viele Regierungen ihre Politik bei, unabhängige und kritische Stimmen zu unterdrücken. … Menschenrechtsverteidiger_innen und Regierungskritiker_innen äußerten sich nach wie vor lautstark und unerschrocken, obwohl Regierungen und mächtige Unternehmen sie in vielfacher Weise unter Druck setzten, unter anderem durch willkürliche Festnahmen, ungerechtfertigte Strafverfolgung, einschüchternde und haltlose Gerichtsverfahren, administrative Auflagen und andere Bedrohungen sowie durch Verschwindenlassen, Folter und andere Formen der Gewalt. Immer häufiger wurden strategische Gerichtsverfahren gegen öffentliche Beteiligung (SLAPP-Klagen) benutzt, um Menschenrechtsverteidiger_innen ins Visier zu nehmen und zu drangsalieren.“

Amnesty empfiehlt: „Gleichzeitig sollten die Regierungen Gesetze erlassen oder erweitern, um ein sicheres und förderliches Umfeld zu gewährleisten, in dem Menschen zur Verteidigung und Förderung der Menschenrechte zusammenkommen können. Und sie sollten Gesetze aufheben oder reformieren, die die legitime Tätigkeit von NGOs behindern, einschließlich der Beantragung, Annahme und Verwendung finanzieller Mittel.“

Deutschland

Zu Deutschland nennt Amnesty als Herausforderungen unter anderem Beschränkungen des Rechts auf Versammlungsfreiheit und den Anstieg der Hasskriminalität: „Die Rechenschaftspflicht der Polizei bei diskriminierenden Übergriffen wurde weiterhin behindert, da es keine unabhängigen Beschwerdemechanismen zur wirksamen Untersuchung entsprechender Vorwürfe auf Bundes- und Landesebene gab.“

Amnesty fordert Maßnahmen gegen rassistisch motivierte Straftaten: „Die Maßnahmen sahen zwar eine stärkere Unterstützung der Zivilgesellschaft vor, reichten aber nicht aus, um gegen institutionellen Rassismus vorzugehen und eine Gesamtstrategie gegen rassistische Gewalt zu entwickeln.“

Europa

In Europa sieht Amnesty Druck auf das Recht auf Vereinigungsfreiheit: „In Ländern im Osten der Region [Europas] setzten die Behörden gesellschaftliches Engagement immer häufiger mit politischen Aktivitäten gleich, und bei Verstößen gegen die restriktiven Vereinigungsgesetze drohten Haftstrafen.“

Amnesty empfiehlt: „Um die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit ausüben zu können, bedarf es eines Freiraums, der gegen Übergriffe des Staates geschützt sein muss, die unter diversen Vorwänden erfolgen.“

Vorherige Veröffentlichungen zu Shrinking Spaces